In die Sonne schauen
Filmfestspiele von Cannes 2025: Großer Preis der Jury
Kulturstaatlich gefördertes Kino aus Deutschland ist häufig vieles: grau und ernst, etwas steif und starr, unterkühlt und behäbig. Zudem sucht es meistens, unsere dunkle historische Vergangenheit zu bewältigen (und wie »gut« diese Bildungsarbeit gelingt, lässt sich ja derzeit in Echtzeit beobachten …). Was man mit Kino aus Deutschland seltener assoziiert, sind Filme voller Zärtlichkeit und Poesie. Mascha Schilinski könnte nun gelingen, was zuletzt vielleicht Maren Ade vor rund einem Jahrzehnt mit »Toni Erdmann« geschafft hat: dem deutschen Arthouse-Kino mit einer ganz eigenen, unverkennbaren Stimme neues Leben einzuhauchen. Ihr erst zweiter Spielfilm »In die Sonne schauen« geht sanft unter die Haut und bohrt sich behutsam ins Gedächtnis – ein unvergesslicher, stiller Triumph des Subtilen.
Von der ersten Minute an liegt ein Schleier des Geheimnisvollen über dem abgeschiedenen Vierseitenhof in der Altmark, dessen Dunstkreis wir im Laufe der knapp zweieinhalb Stunden nie verlassen werden. Mit müheloser Kunstfertigkeit überblendet der Film an diesem Ort vier weibliche Schicksale in vier verschiedenen Epochen: Alma (1910er), Erika (1940er), Angelika (1980er) und Nelly (2020er). Jede der vier Protagonistinnen – ob Kind, Jugendliche oder erwachsene Frau – ist Teil eines komplexen Familiengeflechts, in dem sich die Vergangenheit der jeweils anderen in Spuren wiederfindet. Alma macht die Entdeckung, dass sie nach ihrer viel zu jung verstorbenen Schwester benannt wurde, was sie glauben lässt, für dasselbe Schicksal prädestiniert zu sein. Erika wiederum verliert sich in einer Faszination für ihren Onkel, der als einbeiniger Invalide das Bett hütet. Die rastlose und lebenshungrige Angelika hingegen will ausbrechen aus der provinziellen Enge – für sie ist der Bauernhof ein Gefängnis. Und Nelly hat mit ihrer Familie gerade den Hof bezogen, als sie von einer lang unterdrückten Last der Vergangenheit heimgesucht wird.
Ob Badetage am See, feuchtfröhliche Familienfeste, Schäkern mit dem Nachbarjungen im Stroh oder Gutenachtküsse der Mutter beim Zubettgehen – hinter jeder dargestellten Idylle verbergen sich unausgesprochene Sehnsüchte, unterdrückte Begehren, streng gehütete Geheimnisse oder verdrängter Schmerz, die sich in versteckten Blicken oder leisen Gesten andeuten. Auch die sublime Kameraarbeit trägt ihren Teil dazu bei, dass sich schon von der ersten Szene an, in der Erika ihren (vermeintlich) schlafenden Onkel intim am von Schweiß genässten Bauchnabel berührt, eine unterschwellige Spannung aufbaut. Die Kamera macht uns zu heimlichen Beobachtenden – sie lässt uns durch Schlüssellöcher spähen oder unter Türspalten hindurchblicken, während akustisch immer wieder Brücken zwischen den Zeiten geschlagen werden, etwa durch das Summen einer Fliege, das zur wiederkehrenden Metapher allgegenwärtiger Vergänglichkeit wird.
Bereits mit ihrem zweiten Spielfilm ist Mascha Schilinski zu einer Virtuosin cineastischer Synästhesie gereift. Sie versteht es, große Themen und komplexe Gefühle mit den feinsinnigsten dramaturgischen Regungen auszudrücken. »In die Sonne schauen« ist ein assoziativ-verrätseltes Meisterinnenwerk! Zuweilen schlägt es in den Bann mit der rauen Härte eines Michael Haneke. Meistens jedoch erzählt es mit entgrenzender Schwerelosigkeit von generationenübergreifenden Traumata, weiblicher Unterdrückung, familiärer Enge, Todessehnsucht und nicht zuletzt von der Flüchtigkeit des jetzigen Augenblicks.
Vollkommen zurecht wurde dieser große Wurf unter dem Vorsitz von Juliette Binoche in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.
- Pressestimmen:
- »Der Glamour von Cannes noch etwas gewöhnungsbedürftig für die Berlinerin. Ihr Werk dagegen meisterlich. Mitreißend erzählt »In die Sonne schauen« in originellen Bilden und sparsam pointierten Dialogen wie sonst selten im deutschen Kino.« (3sat)
- »Ein eindrucksvoller, ja ziemlich meisterhafter Film, der viel offen und sich die richtige Zeit lässt, sein Geheimnis bewahrt, sich schlafwandlerisch zwischen den Zeiten und Stimmungen bewegt.« (Blickpunkt:Film)
- »Die Sensation von Cannes.« (Zeit Online)
- »So heftig und aus dem Nichts ist schon lange kein Stern über Cannes mehr aufgegangen.« (Die Welt)
- R
- Mascha Schilinski
- K
- Fabian Gamper
- M
- Michael Fiedler, Eike Hosenfeld
- S
- Evelyn Rack, Billie Mind
- D
- Hanna Heckt, Lena Urzendowsky, Laeni Geiseler u.a.
- Land
- D
- Jahr
- 2025
- Genre
- Drama
- Länge
- 149 Minuten
- FSK
- ab 16
- Tickets
- Do., 28.08. 16:00 & 19:00
- Fr., 29.08. 16:00 & 19:00
- Sa., 30.08. 16:00 & 19:00
- So., 31.08. 15:00 & 18:00
- Mo., 01.09. 16:00 & 19:00
- Di., 02.09. 16:00 & 19:00
- Mi., 03.09. 16:00 & 19:00